30 Jahre Wohn- und Lebensraum für Menschen mit psychischer Erkrankung | Vom ersten außerklinischen Langzeitwohnheim in Unterfranken zu einem modernen Wohnverbund mit Cafébetrieb
Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen des Wohnverbundes Haus Gertrud im SkF freuen sich auf das Fest zum 30-jährigen Jubiläum | Fotos: Claudia Jaspers
Würzburg-Pleich. An einem sonnigen Dienstag treffe ich mich mit der Bewohnerin Barbara M. und Detlef Steinwachs, dem Leiter des Wohnverbundes Haus Gertrud im Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) e.V. Würzburg.
Anlass des Treffens ist das 30-jährige Bestehen von Haus Gertrud, dem ersten außerklinischen Langzeitwohnheim für Menschen mit chronisch psychischer Erkrankung in Unterfranken und Grundstein für den heutigen Wohnverbund mitten in der Würzburger Innenstadt.
„Ich dachte, ich bleib ein bisschen“
Barbara M. wohnt seit zwölf Jahren im Wohnverbund Haus Gertrud. 2005 zog sie nach längerem Klinikaufenthalt in ein Einzelzimmer ins Langzeitwohnheim. „Wohnheim war für mich nicht so positiv besetzt“, so die heute 54-jährige Barbara. „Mir war damals nicht bewusst, wie tief ich in meiner Depression steckte. Als Herr Steinwachs mich aus der Klinik ins Haus Gertrud holte, dachte ich, ich bleib ein bisschen.“
Das Leben in Haus Gertrud tat ihr gut. Sie stabilisierte sich und konnte nach knapp zwei Jahren in die hausinterne therapeutische Wohngruppe umziehen. Zusammen mit einer weiteren Frau und zwei Männern trainierte sie hier wieder eigenständige Haushaltsführung und orientierte sich zunehmend an der Außenwelt. Vor allem lernte sie mit anderen und mit sich selbst besser umzugehen. Die Sehnsucht in einer eigenen Wohnung zu leben blieb. 2013 konnte Barbara M. dann endlich in eine Zweier-Wohngemeinschaft ins Ambulant Betreute Wohnen ziehen. Ihr letzter Klinikaufenthalt liegt Jahre zurück. Aber der Reihe nach.
Manchmal spielt das Leben Karussell
1983 zeichnet sich bei der damals 21-jährigen Hauswirtschafterin eine psychische Erkrankung ab, manische und depressive Phasen wechseln sich ab. Eine Bipolare Störung tritt meist erstmals im Alter zwischen 15 und 25 Jahren auf. Derzeit sind circa zwei Prozent der Bevölkerung betroffen. Männer und Frauen erkranken etwa gleich häufig. „In manischen Phasen rede ich viel. Damals habe ich in der Franziskanerkirche „gepredigt““, erinnert sich die sympathische Barbara M. Während einer dieser Phasen verliert die junge Frau ihre Anstellung in einem Würzburger Krankenhaus. Ohne Arbeit und mit wenig Geld verliert sie bald darauf auch ihre Wohnung und lebt für kurze Zeit auf der Straße. Sie muss sich in psychiatrische Behandlung begeben. Hier wird die manisch-depressive Erkrankung erstmals diagnostiziert.
Größtmögliche Selbständigkeit
Nach ihrem Klinikaufenthalt findet Barbara M. einen Platz in einer therapeutischen Wohn-gemeinschaft, einer Übergangseinrichtung, in der sie zwölf Monate bleiben kann. Hier besucht sie die regelmäßig stattfindende Sportgruppe, die der damalige Student der Sozialen Arbeit, Detlef Steinwachs, 1986 im Rahmen seines Praxissemesters anbietet.
Ihre Triebfeder war und ist der Wunsch nach größtmöglicher Selbständigkeit trotz und mit psychischer Erkrankung. Sie wohnte in verschiedenen Wohngemeinschaften und arbeitete im Rahmen ihrer Möglichkeiten zum Beispiel in der Fahrradwerkstatt des Erthal-Sozialwerks. Zwischendurch musste sie immer wieder in der Klinik behandelt werden.
1999 zieht sie mit ihrem Freund in eine eigene Wohnung. Als die Beziehung nach ein paar Jahren auseinandergeht, rutscht Barbara M. in eine schwere Depression. Sie schluckt Tab-letten, aber eigentlich will sie gar nicht sterben und schafft es noch rechtzeitig, den Not-arzt zu rufen. Es folgen lange Monate in der psychiatrischen Klinik.
Detlef Steinwachs, der Student von damals ist seit 1989 Leiter des Wohnverbundes Haus Gertrud. Als er im Jahr 2005 während eines Besuches in der Klinik die schwer depressive Barbara M. trifft, erinnert er sich an die junge Frau aus der Sportgruppe und beschließt, ihr den gerade frei gewordenen Platz in seinem Wohnheim Haus Gertrud anzubieten.
Wohnen – leben – arbeiten
„Herr Steinwachs hat mich damals gerettet“, ist Barbara M. überzeugt. Heute wohnt sie im Ambulant Betreuten Wohnen des Wohnverbundes in einer Zweier-Wohngemeinschaft und arbeitet im Rahmen des Zuverdienst Projektes im Bürgerhaus Pleich. Sie übernimmt Selbstverantwortung und erlebt ein gut funktionierendes und unterstützendes Hilfe-System. „Hier ist meine neue Heimat!“ Barbara M.s Augen strahlen.
Natürlich gibt es gute und nicht so gute Tage, aber Barbara M. hat sich im Lauf der letzten Jahre ein großes Maß an Lebensqualität erarbeitet und ihr Ziel vom größtmöglichen eigenverantwortlichen Leben erreicht. Diesen Zustand will sie so lange es geht erhalten. „Ich kann hier selbständig leben, ohne allein leben zu müssen und ich weiß, dass ich gebraucht werde“, freut sie sich. „Ich bin mit meinem Lebensglück sehr zufrieden und möchte hier alt werden.“
Gegebenheiten setzen Grenzen
„Psychische Erkrankungen grenzen und schränken ein, sie nehmen Freiraum und Gestal-tungsmöglichkeiten“, erklärt Detlef Steinwachs. „Mit unserer Arbeit möchten wir erreichen, dass die Menschen sich wieder trauen, ihr Lebensschicksal weitestgehend in die eigene Hand zu nehmen.“
Es geht um Lebensqualität, um Verantwortung und Freiheit, Verlässlichkeit und Sicherheit, Struktur und Freiraum, und vor allem geht es um die Bedürfnisse der Bewohner*innen und deren Hoffnungen. So konnte sich im Lauf von 30 Jahren aus der Kerneinrichtung Langzeitwohnheim Haus Gertrud der heutige Wohnverbund Haus Gertrud mit fünf Bausteinen entwickeln.
Wohnverbund Haus Gertrud – Fünf Bausteine für 38 Menschen
Das Langzeitwohnheim Haus Gertrud bietet 20 Plätze für Erwachsene mit chronisch psychischer Erkrankung, die sich nicht oder nicht mehr in der Lage sehen, ein selbständiges Leben zu führen und fachgerechte, sichere und dauerhaft psychosoziale Betreuung benötigen. Die Therapeutische Wohngruppe im Haus Gertrud mit vier Plätzen entwickelte sich aus dem Bedürfnis einiger Bewohner*innen nach mehr Eigenverantwortung und Selbständigkeit. 1999 kam das Kleinheim in der Bärengasse mit neun Plätzen und deutlich weniger Betreuungsintensität hinzu. Eine Wohnform, die dem Wunsch der Bewohner*innen nach Lebensperspektiven mit mehr individuellen Lebensräumen und Selbstbestimmungswünschen stärker Rechnung trägt.
Sozialraumorientierung und Inklusion
In Zusammenarbeit mit dem Sozialreferat der Stadt Würzburg entwickelte der SkF ein soziales Konzept unter dem Gesichtspunkt der Sozialraumorientierung. Das ehemalige unter Denkmalschutz stehende Gasthaus „Restauration zur Stadt Kitzingen“ in der Pleicherschulgasse wurde von der Stadt Würzburg erworben und im Zeitraum von 2010 bis 2013 grundlegend restauriert. Heute heißt es Bürgerhaus Pleich und soll als niederschwelliges Angebot das Zusammenleben und Zusammenarbeiten besonders auch der im Viertel wohnhaften älteren Menschen und psychisch kranken Menschen ermöglichen und fördern. Mit den Räumlichkeiten im Erdgeschoß wurde öffentlicher Raum geschaffen. Das Bürgerhaus bietet Platz für 30 Gäste, ist barrierefrei und kann auch für private Feiern, Gruppentreffen, Besprechungen, Tagungen, Fortbildungen, etc. gemietet werden.
Wer selbst gebackene Kuchen liebt, sollte mittwochs oder freitags unbedingt im Bürger-haus Pleich vorbeischauen. In der Zeit von 14:00 bis 17:30 Uhr bietet der Stadtteiltreff Begegnung und Café-Betrieb. Die Preise für Kuchen und Getränke sind auch für Leute mit kleinem Geldbeutel erschwinglich.
In den oberen Stockwerken des Hauses befinden sich zwei Wohnungen. Hier, im Ambulant Betreuten Wohnen, leben insgesamt fünf Menschen mit psychischer Erkrankung in zwei Wohngemeinschaften. Im Rahmen eines Zuverdienst-Projektes leisten sie den Service und das Management im Bürgerhaus.
Jubiläums-Gottesdienst und Kirchen-Kaffee
Anlässlich des Jubiläums von Haus Gertrud gestalten Bewohner*innen und Mitarbei-ter*innen des Wohnverbundes am 25. Juni den Sonntagsgottesdienst um 9:00 Uhr in der Pfarrkirche St. Gertraud, Pleicherkirchplatz, mit und laden anschließend zum „Kirchen-Kaffee“ ins Bürgerhaus Pleich in die Pleicherschulgasse 3 ein.
Festveranstaltung und Feier
Beim Festakt am 7. Juli wird Prof. Dr. Frank Früchtel von der Fachhochschule Potsdam zum Thema ‚Inklusion und Sozialraumorientierung‘ referieren. Anschließend wird in der Pleich gefeiert.
Claudia Jaspers