30 Jahre Wohn- und Lebensraum für Menschen mit psychischer Erkrankung
Würzburg-Pleich. Haus Gertrud in der Pleich feierte 30-jähriges Jubiläum. Zum Festakt in der Pfarrkirche St. Gertraud und dem anschließenden Fest im gegenüberliegenden Pfarrgarten waren Bewohner, Angehörige, Nachbarn, Mitarbeiter, Fachleute, Kooperationspartner, Kostenträger sowie Vertreter aus Politik, Kirche und Verwaltung eingeladen.
Im Vorwort des zum Jubiläum herausgegebenen Lesebuchs schreibt Detlef Steinwachs, Wohnverbund Haus Gertrud Leiter: “Wenn Menschen mit psychischer Erkrankung schon so lange als Mitbürgerinnen und –bürger in Würzburg, hier im Stadtteil Pleich, leben und gut zurechtkommen, dann soll das auch so wahrgenommen werden. Deshalb feiern wir das 30-jährige Bestehen des Wohnheims Haus Gertrud.
Mit der Entwicklung vom klassischen Wohnheim zu einem modernen Wohnverbund mit differenzierten Wohnangeboten und Zuverdienstmöglichkeiten im Bürgerhaus, begehen wir einen lokalen und überschaubaren Weg im Gemeinwesen. Das Wohnheim öffnet sich und leistet einen wichtigen Beitrag, damit Inklusion im Stadtteil gelingt. Unsere soziale Arbeit nimmt die Prinzipien der Sozialraumorientierung auf und zeigt wie Ressourcen und Potentiale der nachbarschaftlichen Hilfen, sozialer Netzwerke und der Bürgerschaft genutzt werden.“
Festvortrag zum Thema Sozialraumorientierung
Prof Dr. Frank Früchtel, Dekan des Fachbereichs Sozial-und Bildungswissenschaften an der Hochschule Potsdam, fesselte die Festgesellschaft gut eine Stunde mit seinem Vortrag zum Thema Sozialraumorientierung. Mit Hilfe des Gemäldes ‚Zwischen Karneval und Fasten‘ aus dem 16. Jahrhundert von Pieter Bruegel dem Älteren visualisierte, gliederte, veränderte und analysierte Früchtel den ‚Sozial-Raum‘. Das Gemälde zeigt einen mittelalterlichen Marktplatz, auf dem es von Menschen wimmelt. Mitten unter ihnen auch Menschen mit sichtbarer Behinderung. Sie fallen erst bei genauem Hinsehen auf, sie gehören dazu, haben ihren Platz und ihre Aufgabe in ihrem Lebensraum. „Der soziale Raum ist nicht ordentlich, nicht aufgeräumt“, so Früchtel. „Der soziale Raum ist keine Organisation, er ist ein riesiger Wirrwarr aus menschlichen Wechselwirkungen.“
In der Sozialraumorientierung gebe es, so Früchtel, zwei Arten zu arbeiten: Das fallspezifische Arbeiten, bei dem es darum gehe, die Netzwerke eines Menschen aufzudecken und mit diesen zu arbeiten, sie zu nutzen. Und das fallunspezifische Arbeiten, laut Früchtel das Arbeiten mit Beziehungen, die es noch gar nicht gibt. Hier komme das Prinzip Gelegenheiten beim Schopfe packen zur Anwendung. Früchtel untermauerte seine Aussagen mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis.
Lebensraum – Sozialraum – Raumpflege
Die Pleich, ein Dorf mitten in der Stadt, wie Dr. Peter Motsch sie in der Gesprächsrunde bezeichnete, ist der Lebens- und Sozialraum für Haus Gertrud-Bewohner und -Mitarbeiter und natürlich der Pleicher Bevölkerung. In der Gesprächsrunde mit Wohnverbundleiter Detlef Steinwachs, dem ehemaligen SkF-Geschäftsführer Wolfgang Diedering, dem ehemaligen Sozialreferenten Dr. Peter Motsch, der SkF-Vorsitzenden Dr. Anke Klaus, dem langjährigen Wegbegleiter Prof. Dr. Ernst Engelke, der Bewohnerin Barbara M. und der Nachbarin Agnes Göbel ging es um Rückblick, Bestandsaufnahme und Blick in die Zukunft. Moderator Claus Schreiner fragte nach der Entstehungsgeschichte, nach Highlights und nach Wünschen für die Zukunft.
Die Pleich eignet sich dafür, Heimat zu finden
Die Gesprächspartner sind sich einig: Die Pleich eignet sich dafür, Heimat zu finden. Die Menschen im Wohnverbund Haus Gertrud haben hier Heimat gefunden. „Die Bewohnerin-nen und Bewohner sind meine Nachbarn“, freut Agnes Göbel sich. „Ich gehöre zu ihnen und sie gehören zu mir. Ich hoffe, dass das so bleibt.“ Und Barbara M., die seit 12 Jahren im Wohnverbund lebt erklärt: “Für uns seelisch kranke Menschen ist es wichtig, eine Struktur zu haben und angenommen zu werden. Ich fühle mich hier sehr wohl.“
Detlef Steinwachs bedankte sich bei den Nachbarn in der Pleich und wünschte sich von den Bürgern im Viertel, dass sie den Menschen mit psychischer Erkrankung auch weiterhin offen begegnen und noch besser kennenlernen. Damit die Buntheit und die Vielfalt im Viertel erhalten bleibe bzw. stetig wachse.
Erstes außerklinisches Langzeitwohnheim
Haus Gertrud in der Pleicherpfarrgasse war das erste Langzeitwohnheim für Menschen mit chronisch psychischer Erkrankung außerhalb eines Klinikgeländes. 1987 zogen dort 20 Frauen und Männer mit psychischen Erkrankungen ein. Menschen, die lange und häufige Behandlungszeiten in psychiatrischen Kliniken hinter sich hatten. Obwohl sie sich infolge ihrer psychischen Erkrankung nicht oder nicht mehr in der Lage sahen, ein selbständiges Leben zu führen, war da doch die Sehnsucht nach größtmöglicher Selbständigkeit trotz Erkrankung.
Lebensraum individuell gestalten ...
In Haus Gertrud erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner fachgerechte, sichere und dauerhafte psychosoziale Betreuung. Trotz eines stark strukturierten Betreuungskonzeptes geht es immer auch darum, dass die einzelnen Bewohner*innen ihre Lebensräume möglichst individuell gestalten können und die Betreuungsform den Selbstbestimmungswünschen gerecht wird. Viele der Bewohner*innen konnten im Stadtteil neue Wurzeln finden und versuchen einen größtmöglichen Anteil an Alltag und ‚Normalität‘ zu leben und erleben.
... unter normalisierten Lebensumständen
Das Konzept hat sich bewährt und wurde im Laufe der Jahre sukzessive weiterentwickelt. Eine begleitete Wohngruppe mit 4 Plätzen, ein weniger intensiv betreutes Kleinheim mit 9 Plätzen und Ambulant Betreutes Wohnen (ABW) in zwei Wohnungen mit 5Plätzen ergänzen heute das Angebot des Langzeitwohnheims Haus Gertrud. Zusammen mit dem Begegnungscafé Bürgerhaus Pleich bilden diese 5 Bausteine den heutigen Wohnverbund Haus Gertrud, der insgesamt 38 chronisch psychisch kranken Menschen ein Leben in geschütztem Rahmen unter normalisierten Lebensumständen bietet. Darüber hinaus bestehen im Bürgerhaus Arbeitsplätze im Rahmen eines Zuverdienst-Projektes für die 5 Bewohnerinnen des ABW.
Zwei Wochen vor der Festveranstaltung hatten Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen von Haus Gertrud den Sonntags-Gottesdienst in der Pleicher Pfarrkirche St. Gertraud mitgestaltet. Eine Gruppe junger Eritreer, die sich wöchentlich im Bürgerhaus zum Austausch trifft, kam im Anschluss an ihren eigenen Gottesdienst und bereicherte den Festgottesdienst mit zwei traditionellen eritreischen Gebetsgesängen. Danach waren alle zu Kaffee und Kuchen ins Bürgerhaus Pleich eingeladen.
Claudia Jaspers